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Architekturrat der Schweiz
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Positionspapier zur Architekturforschung in der Schweiz (Stand: 17. August 2022)

 

Kontext
Alle wichtigen Herausforderungen unserer Zeit, wie Klimawandel, soziale Inklusion oder technologische Innovation, spiegeln sich in der gebauten Umwelt wieder. Klimaneutralität ist ohne eine ökologische-nachhaltige Baukultur (1) nicht zu erreichen und eine sozial durchmischte Gesellschaft braucht Räume, die Austausch zulassen und fördern. Die Arbeit an und mit der gebauten Umwelt basiert einerseits auf theoretischer Forschung
und andererseits auf praktischen Experimenten, die zu neuen Erkenntnissen führen. Die systematische Aufarbeitung von vorhandenen Wissensbeständen, die Generierung neuen Wissens und die Weiterentwicklung der Verfahrensweisen der Architektur begleiten die Disziplin seit ihren Anfängen. Zeugnis davon legen eine Vielzahl architektonischer Publikationen ab, die bis in die Antike zurückreichen.
Ziel des Positionspapiers ist es, die Exzellenz der Architekturforschung in der Schweiz zu stärken. In Grossbritannien, den USA oder den Skandinavischen Ländern ist die Architekturforschung fester Bestandteil der Lehre in Master- und PhD Programmen, sowie in der architektonischen Praxis. Die European Association for Architectural Education (EAAE) hat 2013 mit der «Charta for Architectural Research» ein Dokument veröffentlicht, das
europäischen Forschungsinstitutionen als gemeinsamer Leitfaden für die Implementierung architektonischer Forschung dient. (2) In der Schweiz existieren wenige öffentliche
Förderprogramme, die explizit der architektonischen Forschung gewidmet sind. Auf Grund der zentralen Bedeutung der Forschung für die Entwicklung der gebauten Umwelt, betrachtet der Architekturrat der Schweiz die Abwesenheit einer Forschungsförderung in der Architektur an den meisten Hochschulen nicht nur als ein grosses Manko, sondern sieht dies auch als Grund, dass die Disziplin ihre Vorreiterrolle in baukulturellen Fragestellungen
verloren hat.

 

Auftrag
Der Architekturrat empfiehlt der Schweizer Wissenschaftspolitik auf kantonaler und nationaler Ebene, genuine Forschungsförderungsstrukturen in der Architektur zu installieren. Die Architektur muss anderen Forschungsdisziplinen gleichgestellt werden.

 

Der Architekturrat der Schweiz erklärt:

 

• Architektonische Forschungsförderung muss transdisziplinäre Forschung zu Fragen des Raums finanzieren.

Ein zentrales Objekt architektonischer Forschung ist der Raum in all seinen Facetten.
Mit Hilfe von analogen und digitalen Entwurfsprozessen, gewinnt die Architektur anhand von Zeichnungen, Bildern und Modellen neues Wissen über räumliche
Verhältnisse und Qualitäten. Darüber hinaus greifen Architekt*innen auf Forschungsansätze aus unterschiedlichen Disziplinen zurück, um ihr Wissen zu erweitern. Das Spektrum reicht von historischen-, kultur- und
sozialwissenschaftlichen Methoden (3) bis hin zu Ansätzen aus den Gebieten der Technik-, Natur- und Materialwissenschaften (4).

 

• Architektonische Forschungsförderung muss die Schnittstelle zwischen akademischer Forschung und architektonischer Praxis einbeziehen

Die Schweiz besitzt eine ausgeprägte Handwerkstradition, einen Fokus auf Konstruktionswissen und eine starke Verwurzelung in der praxisorientierten Architekturlehre. Herausragende Forschungsergebnisse sind gleichermassen
geprägt von der Arbeit und dem Engagement im akademischen Bereich und von der professionellen Exzellenz, die an den Hochschulen und in den Architekturbüros stattfindet. Diese enge Verknüpfung von professioneller und akademischer Arbeit muss in der Vergabe von architektonischer Forschungsförderung berücksichtigt werden.

 

• Die Fördermittelvergabe muss durch eine eigene Peer-Community erfolgen.

Gelder für architektonische Forschung werden bisher von Gremien bewilligt, die sich überwiegend aus fachfremden Personen zusammensetzen. Ein Beispiel dafür ist der
Schweizerische Nationalfond (SNF), der Mittel für Forschung in der Architektur über die Abteilung Geistes- und Sozialwissenschaften vergibt. Diese Fördermittelverteilung über fachfremde Gremien birgt die Gefahr eines hohen
Transferverlustes. Vergabeprozesse müssen sich auf die Fachkompetenz ihrer Peer-Community stützen können und über die Verteilung von Forschungsgeldern im Fachbereich entscheiden.

 

• Architektonische Forschungsförderung muss Wissenskommunikation durch unterschiedliche Medien unterstützen.

Der Transdisziplinarität architektonischer Forschung entsprechend wird Wissenskommunikation durch unterschiedliche Medien betrieben. Forschende Architekt*innen müssen unterstützt werden, ihr Erkenntnisse sowohl über neue
Medien, Bücher, Zeitschriftenartikel, Vorträge und Ausstellungen als auch durch Design-Objekte, Gebäude-Prototypen sowie fertige Bauwerke zu verbreiten. Der Architekturrat der Schweiz fordert, eine nationale Peer-Review Plattform für wissenschaftliche Arbeiten- und Projekte zu etablieren, um im internationalen Massstab bestehen zu können.

 

• Architektonische Forschungsförderung muss verschiedene Laufbahnen unterstützen.

Auf Grund der Nähe zur Profession verlaufen Forschungslaufbahnen in der Architektur nicht ausschliesslich innerhalb der akademischen Institutionen. Viele der forschenden Architekt*innen wechseln von den Hochschulen und Universitäten in die professionelle Praxis und wieder zurück. Darüber hinaus bedienen sich Architekt*innen in ihrer Forschung bei Methoden unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, um neues Wissen zu generieren. Auch wenn diese Werdegänge für andere Disziplinen unüblich sein mögen, sind sie fester Bestandteil der architektonischen Forschungskultur.

 

• Architektonische Forschungsförderung muss heterogene Forschungsnetzwerke unterstützen.

Gerade weil architektonische Forschung so vielfältig ist liegt ein besonderes Potential in der Verbindung unterschiedlicher Perspektiven und Ansätze. Dank ihrer transdisziplinären Praxis ist die Architektur ein Bereich, in dem sich Forscher*innen aus den unterschiedlichsten Feldern zusammenfinden. Neben Wissenschaftler*innen an Hochschulen und Universitäten betrifft das auch Akteure aus der Industrie und Politik. Diese Kollaborationen sind weiter auszubauen und aktiv in die Förderprogramme auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene zu integrieren.

 

Fazit
Die Architektur ist nicht nur essentieller Bestandteil der Baukultur, sondern auch Träger einer hohen Verantwortung für die Zukunft unseres gesamten Lebensraums. Die Architekt*innen in der Schweiz verfügen über ein breites Instrumentarium an Theorien und Methoden, die einen wesentlichen Beitrag zur Lösung gegenwärtiger Herausforderungen leisten. Ohne eine genuine Forschungsförderung in der Architektur können sich die Architekt*innen den
aktuellen und zukünftigen Fragen nicht stellen. Daher müssen auf Empfehlung des Architekturrats der Schweiz auf Seiten kantonaler und nationaler Wissenschaftspolitik Förderungsstrukturen zur Architekturforschung in der Schweiz bereitgestellt werden.

 

1 https://davosdeclaration2018.ch/
2 https://www.eaae.be/about/statutes-and-policypapers/eaae-charter-architectural-research/

3 z.B.: Recherche in Archiven und Beobachtung von sich verändernden Bau- und Wohnkulturen, wie Auswirkungen von Migrationen und Pandemien auf das gesellschaftliche Zusammenleben
4 z. B.: Einführung neuer Baumaterialien, Entwicklung digitaler Entwurfsmethoden, Nachnutzung von Infrastrukturen sowie Gebäudetypologien, Elemente- und Materialkreisläufe

 

Autor*innen
Das vorliegende Positionspapier wurde von einer Gruppe von sieben Expert*innen erarbeitet:
Walter Angonese, Bernhard Böhm, Heike Biechteler, Martin Fröhlich, Joachim Huber, Johannes
Käferstein, Sascha Roesler.
Für die Formulierung des Positionspapieres wurden vorgängig drei vom Architekturrat organisierte Workshops abgehalten, auf deren Grundlage die wesentlichen Inhalte und Forderungen des
vorliegenden Dokumentes entstanden sind.
Auf dem ersten Workshop, am 4. November 2020, lag der Schwerpunkt auf den Inhalten der architektonischen Forschung. Hier nahmen die folgenden Referent*innen teil:
Bernhard Böhm (ETH Zürich), Roberto Cavallo (TU Delft), Murray Fraser (Bartlett School of Architecture), Carlo Nozza (USI Mendrisio), Sascha Roesler (USI Mendrisio), Holger Schurk (ZHAW
Winterthur) und Angelika Schnell (Akademie der bildenden Künste Wien).
Auf dem Workshop am 10. Februar 2022 haben Vertreter*innen aus verschiedenen Förderstellen über die Finanzierungspolitik, Richtlinien und Strukturen berichtet. Mit dabei waren Oya Atalay Franck (Swiss National Science Foundation), Philippe Bischof (Pro Helvetia), Florian Dombois (Zurich University of the Arts), Fabio Gramazio (ETH Zurich), Madeleine Schuppli (Pro Helvetia), Andrea Wald-Bruckner (Austrian Science Fund), Gesa Ziemer (German Science Council).
Auf dem Treffen, am 8.Dezember 2021 wurden Visionen für zukünftige Forschungsthemen, Kollaborationen und Fördermöglichkeiten diskutiert und dafür Vertreter*innen aus der Politik, der
Vermittlung und Forschung eingeladen:
Ronny Hardliz (Visual Artist / Ph.D.), Jeffrey Huang (EPFL), Orkun Kasap (ETH Zurich), Andreas Kofler (Schweizerisches Architekturmuseum (SAM)), Brigitte Müller (Bundesamt für Kultur (BAK) - Sektion Baukultur), Rolf Schmitz (Bundesamt für Energie (BFE)), Andreas Sonderegger (BSA Research Fellowship), Peter Schwehr (HSLU Luzern), Yvonne Radecker (Materialarchiv), Roland Züger (Werk, Bauen + Wohnen).
Neben den Referent*innen nahmen an den Workshops Forschende aus allen Architekturschulen der Schweiz teil.